(c) Léa Eckly
31.Mai 1980:
Auf der A4 Richtung Straßburg kollidierte ein PKW mit einem LKW. Beide Insassen des Autos waren auf der Stelle tot.
Der Unfallwagen war ein Renault. Unser Renault 4 und..... meine Eltern. Als Vollwaise wuchs ich in einer fremden Familie auf. Diese gehörte nicht zu mir. Das wurde immer zunehmend klarer. Meine kindliche Seele war wie der abgerissene Ast eines Baumes. Getrennt von meinen Wurzeln wurde ich ins kalte Wasser geworfen und musste schwimmen lernen.
Ein treibendes Ich ohne Geschichte auf dem Weg zum Erwachsenwerden.
Dass dies nicht mein einziger Verlust bleiben sollte, zeigte sich Jahre später :
Die andere Frau war scheinbar in vielerlei Hinsicht besser als ich.......für meinen Mann. Er zog aus, und mit ihm auch viele unserer Gegenstände und Möbel. Ich saß im Esszimmer auf einem der vier übrig gebliebenen Stühle am kleinen runden Tisch.
Alles war leer: Die Wände, der Raum. Ich.
Der große Pessimist in mir schrie: Alles weg.
Die nüchterne Stimme sagte mir: Leer ist leer.
Und der kleine Optimist flüsterte mir zu: Wo Leere ist, ist auch Platz.
In diese Gedanken hinein klingelte die Nachbarin meiner längst verstorbenen Großtante. Die letzte Verbindung zu meiner leiblich Familie. Ein Treffen mit ihr vor Jahren war auch das Einzige gewesen. Wir waren zwei Fremde. Doch nun wurden die Karten scheinbar neu gemischt, und ich ließ mich auf das neue Spiel ein.
„Ich komme“ antwortete ich.
Und dann begegneten wir uns.
Auf dem Speicher stand er, mit leichten Verletzungen, hervorgerufen durch Misshandlung und Vernachlässigung. Der Dachboden sollte ausgebaut und deshalb geräumt werden. Keiner wollte ihn. Ich sah ihn. Er gefiel mir. Es war nicht nur Liebe auf den ersten Blick. Ich wusste, dass wir zusammengehören würden so lange ich lebe.
Am 12. April holte ich ihn zu mir.
Ich baute ihn auf. Dann streichelte ich ihn, schüttelte Lasten vergangener Zeiten ab und massierte ihn mit einem kostbaren Öl. Ich sorgte mich um ihn und ließ jemanden kommen, der sich seiner Wunden und Verletzungen annahm. Seither sieht er richtig majestätisch aus. Ich berühre ihn nun jeden Tag. Jede Rundung von ihm kenne ich, genauso wie seine Kanten. Der schöne braune Ton, den er hat, versprüht eine warme Atmosphäre im ganzen Raum.
Von Jahr zu Jahr wächst unsere Vertrautheit. Zunehmend spürbar ist unsere Verbundenheit. Für mich hat er einen unverkennbaren Geruch: Eine Mischung aus verschiedenen süßen Akzenten, hervorgehoben durch eine leichte harzige Note im Hintergrund. Ich kenne ihn in- und auswendig. Er weiß es, sich gut zu präsentieren. Alles, was er nach außen preisgibt, ist Glamour pur. Er ist definitiv gesellschaftsfähig. Dazu schmücke ich ihn auch noch gern, mit für mich wertvollen Teilen und bekleide ihn mit prächtigem Leinen.
Nur ich kenne die in ihm verborgene Seite. Er könnte mein Spiegelbild sein. Wenn jemand es wagen würde, mehr von ihm zu erkundschaften, würde mein liebster Schatz mich das wissen lassen. Im Laufe der Jahre hat er eine eigene Sprache entwickelt, auf die nur ich sensibel reagieren kann. Sein Ton gleicht mal einer harmonischen Melodie, mal einer verstimmten Geige. Denn von dem in ihm Verborgene, dem Süßen, davon darf nur ich profitieren und es genießen.
Liebevoll wurde Tante Catherines Büffet-Schrank aus Eichenholz vor über 100 Jahren zusammen gezimmert. Heute steht er als Mittelpunkt in meinem Esszimmer.
Ja, er steht!...... Ohne Wurzel und Stamm, das mich daran erinnert, dass das Gefühl des Verlorenseins irgendwann wieder vorübergeht und mit ein bisschen Glück auch ein treibendes Ich wieder Fuß fassen kann.
(c) Diana Zeller-Lombardi
„Hallo. Ich bin Herr Eiche Natur, ein massiver Schrank. Mein Zuhause ist mittlerweile ein ruhiges Haus mit zwei Menschen und großem Hund.
Aber das war nicht immer so.
Wisst ihr, ich kann mich noch gut daran erinnern, als ich jung war, sozusagen frisch geboren - also neu - ich stand voller Stolz und Zuversicht in einem Möbelhaus.
Ich machte mich extra groß und breit damit man mich auch ja gut sehen kann. Viele Menschen kamen und gingen, einige sagten, ich wäre zu groß, anderen war ich zu massig; aber dann war es so weit.
Ein Menschenpaar stand vor mir, sahen mich an und waren sofort in mich verliebt. Sie kauften mich und ich durfte bei ihnen einziehen. Bei diesen Leuten fühlte ich mich richtig wohl. Ich wurde gehegt und gepflegt.
Ich war ein wunderschöner Garderobenschrank und hatte tolle Nachbarn. Nie werde ich Herr Schirmständer vergessen, der mit seiner filigranen schmiedeeisernen Gestalt etwas Weibliches an sich hatte. Aber der Gute hatte immer einen Witz auf Lager. Oder Madame Bild. Sie hing auf der gegenüberliegenden Seite an der Wand. Ich habe mich nie an ihrer Landschaft satt gesehen.
Doch eines Tages passierte es.
Meine Leute hatten mich verlassen.
Naja, ich hätte es mir denken können. Das Paar hatte ihr zweites Baby bekommen. Ich hörte sie immer wieder davon reden, dass die Wohnung zu klein wäre und sie nach etwas Größerem suchen müssten. Aber dass sie mich zurücklassen würden, davon war nie die Rede.
Und dann das.
Ich war entsetzt.
Sie haben ihre Jacken und Mäntel aus mir geholt, ein paar Handschuhe und Stiefel, kurz, sie haben mich leergeräumt und sind dann verschwunden.
Ich war total niedergeschlagen.
Meine Leute sind aus der Wohnung gezogen und haben mich zurückgelassen.
Bei dem Gedanken daran könnte ich heute noch ...
Etwas später waren wieder Leute um mich herum.
Aber das war der blanke Horror. Das kann ich euch sagen.
Da war ein kleiner Mensch und der hat mich getreten und geschlagen.
Stellt euch vor – der ist sogar in mich hineingeklettert und hat die Tür von innen zugehalten, so dass mir Angst und Bange wurde als von außen versucht wurde, mich zu öffnen.
Nein.
Das war eine furchtbare Zeit.
Noch heute trage ich Schrammen und Dellen von dieser Zeit.
Ich bekam keine Streicheleinheiten mehr. Kein Staubwedel interessierte sich noch für
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mich. Zum Glück blieben diese Leute nicht all zulange in der Wohnung und ließen mich zurück.
Leider wurde es danach nicht besser. Man könnte fast sagen, es kam noch schlimmer.
Die nächsten Leute stopften alles in mich hinein. Ich war so gefüllt, dass ich meine Türen fast nicht mehr geschlossen halten konnte. Ich ächzte unter der Last. Durch die belastete Zeit mit den Vorgängern hatte ich mittlerweile echt Probleme mit den Scharnieren. So quietschten diese bei jeder Bewegung und dann noch diese Stopferei. Ich kam mir gemästet vor, und, wie gesagt, quietschte und ächzte ich bei jeder Bewegung.
Ich muss wohl zu laut geworden sein, denn eines Tages …
Ich kann kaum darüber erzählen…
Es war sooo furchtbar...
Ich....
Schluck...
Ich wurde weggegeben.
Erst hat man mich komplett ausgeräumt (fand ich ja mal ne gute Sache,) aber dann.....
MAN HAT MICH AUSEINANDER GENOMMEN.
Mich.
Einen wundervollen massiven Eiche-Natur-Schrank.
Ich wurde in meine Einzelteile zerlegt und weggebracht. Das war zu viel für mich.
Meine Ohnmacht muss wohl einige Zeit gedauert haben, denn als ich wieder zu mir kam, war ich wieder aufgebaut und hatte ein komplett neues Innenleben.
Leute, ich sage euch, ich sah innen komplett anders aus. Statt der Garderobenstange hatte ich jetzt mehrere Einlegeböden. Man hatte mich gebürstet und mit Öl eingerieben.
Meine neuen Besitzer hatten aus mir einen Wäscheschrank gemacht. Jetzt musste ich keine schweren Mäntel und nasse, schmutzige Schuhe mehr in mir aufnehmen, sondern wurde mit Handtüchern, Bettwäsche und Putzutensilien bestückt.
Leider war mein Platz dort sehr beengt. Ich passte mit Müh und Not in eine Nische im Flur.
Und so kam es, wie es kommen musste.
Ich wurde noch einmal auseinander gebaut und wo anderes aufgebaut.
Seither stehe ich in einem großen Raum an einer Wand. Rechts von mir steht Familie Juccapalme mit ihren vier kleinen Jungtrieben. Und links neben mir macht sich Herr Monstera groß. Herr Monstera ist ein alter Herr, der immer wieder mal kränkelt, sich aber erstaunlicherweise jedes Mal erholt.
Meiner einer darf seine ganze Pracht zur Schau stellen. Und das mache ich, und wie.
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Schließlich werde ich regelmäßig sauber gemacht und gepflegt.
Ich habe mich mittlerweile an meinen ungewöhnlichen Inhalt gewöhnt.
Lauter Tassen und Teller, auch Gläser in allen Formen und Größen findet ihr in mir. Aber das Beste sind die Getränke. Ich werde auch als Hausbar genutzt.
Ist das nicht toll?
Klar, das Geschirr hat schon sein Gewicht, aber Leute, ihr solltet mal meine Zwischenböden sehn. Die halten was aus, sag ich euch.
Und an manchen Tagen, da ist hier im Raum ziemlich viel Trubel, da geht meine Tür auf und zu, auf und zu...
Soll ich euch etwas verraten?
Auch wenn es mich manchmal nervt und ich motze, eigentlich mache ich das gerne, auch wenn es anstrengend ist und ich mein Alter spüre.
Denn wenn mich jemand das erste Mal sieht und wahrnimmt, dann ist das Staunen jedes Mal groß - was alles in mir drin steckt und wie viel.
Meine neue Familie akzeptiert meine Macken und Schrammen und lächelt gekonnt über meine Geräusche hinweg. Manchmal kommt einer und richtet meine Türen wieder aus, ölt die Scharniere und hilft mir dadurch, noch eine ganze Weile durchzuhalten.
Mein Leben als Schrank war und ist ganz schön aufregend, aber ehrlich gesagt, so im Nachhinein betrachtet, wollte ich keinen Tag missen.
Ich darf mich nochmal vorstellen.
Ich bin Herr Schrank aus Eiche Natur geölt und gebürstet.“
(c) Brigitte Gutmann
Die alte Frau weiß: Nun ist das Haus leer, außer ihr und den schlafenden Enkeln sind alle ausgeflogen. Vorher sind sie zu ihr gekommen, um sich in den Fastnachtskostümen von ihr begutachten oder schminken zu lassen, - denn sie ist die Fasnachtsautorität in der Familie: der Sohn und die Schwiegertochter als Pröpperle, in den bunten Clownsfräcken, mit rotweißen Gesichtern und winzigen Hütchen; der Mieter, ein Ingenieur aus Bochum, der erst seit drei Monaten im Nachbarort arbeitet und sich nun voll Neugier un die Kappler Fasnacht stürzen möchte, als Hexe mit langem, rotem Rock, blauer Zipfelbluse, gelber Schürze und gelbem Kopftuch. Die alte Frau hat ihm die typischen Falten ins kantige Gesicht geschminkt. Und zuletzt seine aus Hamburg angereiste zierliche Freundin, die ein Pierrotkostüm mitgebracht hat und einen besonderen Reiz darin sah, von den mit Adern durchzogenen und von Altersflecken übersäten Händen der Frau Huber in ein weißes, tränendes Pantomimengesicht verwandelt zu werden.
Die alte Frau lächelt und öffnet ein Klappfenster zur Straße, um den Lärm von draußen und ein paar Musikfetzen drüben vom „Prinzen“ einzufangen. Es ist nach neun Uhr, da werden bald die ersten Schudigruppen, vom „Hirschen“ herkommend, hier erscheinen, aufgeheizt, lachend, singend, „brätschend“, mit etwas Aufregung im Bauch. Frau Huber nimmt ihren Stock, humpelt zur Küche, holte eine Flasche „Hex vom Dasenstein“, den roten, und gießt sich ein Viertele ein. Als sie den schweren Geschmack auf der betagten Zunge spürt, wird ihr wohl und warm. Nun wandert ihr Stock ins Schlafzimmer. Ihre Hände tasten nach dem Lichtschalter.
Rechts blickt sie auf den Eichenschrank, dessen linke Hälfte ihrem Mann gehört hat. Von einigen Anzügen konnte sie sich noch immer nicht trennen, obwohl sie schon vier Jahre sein Grab besucht. Links neben der Tür steht ein herrlicher mit Bauernmalereien versehener Kiefernschrank, noch von ihren Großeltern. Sie öffnet ihn. Vorsichtig hebt sie die weiße Decke von den Kleidern: Und da schaut er sie mit all seiner Buntheit und Verführungskraft an, ihr Schudischrank!
Dicht an dicht hängen die Kostüme. Darunter stehen die dazu passenden Schuhe, Stiefel, Strohschlappen. Im oberen Fach liegen, in Tüten und Hüllen verpackt, verschiedenartige Kopfbedeckungen. Heute ist der sogenannte Kappler Zischdi, der Dienstag vor dem Schmutzigen Donnerstag, einer der Höhepunkte in der närrischen Saison. Was soll sie von ihren Schätzen auswählen? Oh nein, nicht mehr, um durch die Lokale als närrischer Schudi zu ziehen! Sie will nur mit diesem Schrank Zwiesprache halten und sich ihren Träumen und Erinnerungen öffnen.
Was für ein Wahnsinn ist doch die fünfte Jahreszeit! Schon nach „Wihnachte“ überlegt man sich in den Vereinen, den Kindergärten und zu Hause, in welchen Kostümen man dieses Jahr auf den Umzügen erscheinen, mit welchen Sketchen man durch die Wirtshäuser ziehen würde. Früher hatte sie immer alles selbst geschneidert, für sich, für den Mann, für die vier Kinder. Überall bunte, glitzernde Stoffe um die Nähmaschine, ein kreatives Chaos, Proben, Besuche… Ihr Mann gehörte lange Jahre zum Elferrat, sie selber stammte aus einer alten „närrischen Familie“. In der Schulzeit hatte sie als „stummer Bur“ die Fremden oft zum Lachen verführt. Mit ihrer Schwester Zita hatte sie den Gästen die ulkigsten Hüte aufprobiert. An Fasnacht hatte sie sich gern neu verliebt. Und im Holländerkostüm hatte sie ihren späteren Mann kennen gelernt.
Bald war ihr größter Spaß gewesen, als „Dupp“, als keifende, dümmliche Alte mit einem Teppichklopfer und er als stotternder, beschränkter Lederhosendepp, durch die Gaststuben zu gehen und sich zu beschimpfen.
Dann kamen die politischen Verwirrungen, die schlimmen Hitlerjahre. Die meisten auf ihrem Dorf wurden Nazis, gingen brav in die katholische Kirche und verdrängten die bösen Anzeichen einer menschenverachtenden, judenfeindlichen Zeit wie eh und je in der „traditionellen, originellen Fasnet“…
Da hängt ja das „Ziginerkostüm“, das sie kurz vor der Hochzeit 1935 getragen hat. Wie sie es liebt! Doch jetzt riecht’s nach Motten. Ein Dirndl kommt ihr in die Finger. Richtig, einmal, schon im furchtbaren Krieg, als sie anfänglich noch an einen Sieg des Führers glaubten, war sie als Kuh gegangen. Zittrig kramt sie in einer Tüte und holt einen Kuhschwellkopf hervor, setzt ihn kichernd auf. Was für eine dumme junge Kuh sie doch gewesen war! Jetzt ist sie eine erfahrene alte Kuh… Zu heiß unter der Maske. Die Jugend heute ist anders, das ist gut so, glaubt nicht mehr blind den Pfarrern und Politikern!
Ach, die Negerröckchen…1942 muss es gewesen sein, da hat der Mann Heimaturlaub bekommen, gerade im Februar. Er wollte Russland, er wollte alles Schreckliche vergessen. Plötzlich wischt sich die Frau Tränen weg: In jenem Jahr war ihr Vater gefallen, ihre Mutter an Krebs gestorben. –
Hier, die Schudipost. Damit ist sie noch als Matrone vor rund 15 Jahren rumgezogen, mit einer Freundin. Nun hört sie Gelächter, eilt zum Fenster. Die Gruppen kommen. Sie spürt ein Kribbeln. Wo ist ihr Rotwein?
Als der Sohn mit seiner Gesellschaft heimkehrt, sieht er Licht im Zimmer der Mutter und will nach ihr schauen. Wer sitzt denn dort im Schaukelstuhl? Von hinten ist’s eine junge Holländerin mit Häubchen und Holzschuhen. Beim Nähertreten fährt ihm Schreck ins Herz. Die Kinnlade der alten Frau hängt schlaff nach unten. Jesses Maria, ist sie tot? Nein, so gnädig kommt der Tod nicht.
Gott sei Dank, ihre Hände sind noch warm. Sie halten ein Photo: Anna und Fritz als Holländer, vergnügt, verliebt. Da muss der Sohn weinen. Hat er nicht im Schlaf das mögliche Todesgesicht seiner Mutter erblickt? Und gleichzeitig ihr Gesicht der Jugend und Sehnsucht. „Ich hol dir eine Decke“, flüstert er.
(c) Eva Schniedertüns Gornik
Schon im letzten Frühjahr, als der Eingangsbereich des Hauses, die Diele und das Treppenhaus neu renoviert wurden, wollte sie ihn am liebsten ausrangieren. Aber Ad hatte mit seinen Einwänden: „Ach, nein. Zu schade, steht doch sehr schön dort. Mir gefällt das gute, alte Stück“, dagegen plädiert. So ließ sie sich überreden und der Schrank blieb an seinem Platz. Und als alle Wände der Diele, auch die Wand, an welcher der Schrank stand, in hellen Grün- und Gelbtönen eine Auffrischung erhielten, gefiel ihr das neue Ambiente. Der Raum wirkte hell und freundlich und der Schrank erschien plötzlich durch diesen Farbkontrast in neuem Glanz.
Nun war ein Jahr vergangen und Marie schwärmte von einer weiteren Verschönerung des großräumigen Dielenbereiches. Ein kleiner, eleganter, runder Glastisch hatte es ihr angetan, den sie dann nach Absprache mit Ad im Möbelhaus kaufte. Er passte wunderbar links neben den großen, langen, pompösen Wandspiegel, der sich gegenüber der Eingangstür befand. Auf dem Tisch dekorierte sie eine zartgrüne Vase, mit frischen, leuchtend-gelben Tulpen darin, die eine herrliche Frühlingsstimmung ins Haus zauberten. Endlich, das hatte sie sich schon immer gewünscht, beim Öffnen der Haustür und Betreten der Diele, quasi als Begrüßung, auf einen einladenden, wunderschönen Blumenstrauß zu schauen. Und dass sie mit dieser Idee einen positiven Effekt erzielte, konnte sie schon am selben Abend erleben, als Ad Heim kam und freudig überrascht in der Diele stehen blieb und das neu gestaltete Entree bewunderte. Es gefiel ihm und Marie begrüßte ihn glücklich.
Es hätte nun in Zufriedenheit so weiter gehen können, aber jedes Mal, wenn Marie in den folgenden Tagen die Diele betrat, blickte sie mit Abneigung auf den Schrank dort. Er wirkte ihrem Verständnis nach viel zu wuchtig und altmodisch und passte einfach nicht mehr. Nein, er gefiel ihr überhaupt nicht.
Beim Kauf des Glastisches hatte sie im Möbelhaus eine schöne, moderne Garderobe gesehen, in einem hellen, freundlichen Holz-Design. Diese konnte sie sich gut in ihrer Diele vorstellen. Doch zunächst müsste erst einmal der Schrank dort weg. „Vielleicht kann ich ihn in der Zeitung inserieren“, überlegte sie, „könnte ja sein, dass jemand solch ein antikes Stück sucht“. Sie beschloss folgende Annonce aufzugeben: „Dielenschrank, antik, Eiche rustikal, Breite 170 cm, Höhe 202 cm, Tiefe 65 cm, 2 Türen, 2 Schubladen. Preis Vh., Telefon“, und erkundigte sich sogleich telefonisch bei der lokalen Tages-Zeitung nach der nächsten Anzeigen-Annahme. Diese war erst wieder am kommenden Dienstag möglich, was ihr sehr gelegen kam, denn so hatte sie über das Wochenende genügend Zeit den Textinhalt der Annonce und ihr Vorhaben noch einmal zu überdenken. Mit Ad wollte sie erst einmal nicht darüber sprechen. Das würde nur wieder zu einer „Für und Wider-Diskussion“ führen, welcher sie im Moment lieber aus dem Wege gehen wollte. Obwohl, in ihrem Innersten konnte sie sich gut vorstellen, dass er diesmal auf ihren Wunsch eingehen würde, schließlich hatte sie ja im letzten Jahr seinen Argumenten folgend, seinem Wunsch entsprochen, und der Schrank blieb an seinem Platz. Also übte sie sich in Gelassenheit und dachte frohen Mutes über das weitere Vorgehen nach. Vielleicht könnte sie ja schon einmal den Schrank einfach leerräumen und entstauben, also sozusagen einen Frühjahrsputz veranstalten. Ja, dieser Gedanke gefiel ihr.
Am Samstagmorgen dann kam die passende Gelegenheit. Ad hatte sich mit einem Freund zum Tennisspielen verabredet und mit der Frage: „Und was machst du, Schatz?“, von ihr verabschieden wollen. „Ach“, lachte sie ihm entgegen, „ich mache Frühjahrsputz und fange mit dem Dielenschrank an“. Ad grinste sie an und rief scherzhaft beim Weggehen: „Du willst ihn doch wohl nicht los werden?“ „Na, vielleicht doch“, rief Marie ihm nach. Dann war sie allein.
Das Ausräumen des Schranks gestaltete sich als große Überraschung. Vieles hatte sich dort angesammelt in der letzten Zeit. Kleidungsstücke, an die sie gar nicht mehr gedacht hatte. Zwei Winter-Outdoor-Jacken, ein roter, leichter Sommermantel, zwei Regencapes, Tücher, Schals, Mützen, Hüte und, und, und. Und die meisten Sachen gehörten ihr. Von Ad fand sie einen dunkelblauen Pullover, den er vor langer Zeit schon einmal vermisst hatte und einen schwarzen Filzhut, den er ewig nicht mehr trug. Marie schwelgte in Erinnerungen. Wann hatte sie das letzte Mal in diesen Schrank geschaut, im letzten Frühjahr? Nein, sie konnte sich nicht erinnern. Aber eines kam ihr plötzlich in den Sinn, weil dieser Schrank so aufgeräumt war, weil dort alles so akkurat zusammengelegt, gestapelt und sorgfältig aufgehängt wirkte.
Sie dachte plötzlich an ihre Teenagerzeit, an ihren unordentlichen Kleiderschrank, in den sie ihre Kleidungsstücke häufig genug einfach so hineinwarf bis irgendwann beim Öffnen der Schranktür alles überquoll und herausfiel. Und dann konnte es passieren, dass, wenn sie aus der Schule Heim kam, ihre Mutter den gesamten Kleiderhaufen auf den Fußboden vor den Schrank platzierte und Marie jedes Kleidungsstück wieder ordentlich in den Schrank einräumen durfte, mit Unlust natürlich. Marie musste lächeln. „Das war Mutterliebe und Erziehung“, dachte sie und erinnerte sich liebevoll daran zurück. Na, und anscheinend haben sich diese Kindheits-Erfahrungen so in ihr gefestigt, dass sie heute diese ausgeprägte Ordnungsliebe besaß und pflegte.
Aber die Ordnung, die in diesem Dielenschrank herrschte, übertraf doch ihre Vorstellung von „Aufgeräumt-sein“ und Sauberkeit. Denn als sie alle Sachen in zwei Wäschekörbe aussortiert hatte und der Schrank total leergeräumt dastand und sie ihn eigentlich entstauben und auswischen wollte, wie man das ja normalerweise beim Frühjahrputz so macht, konnte sie kein einziges Stäubchen, geschweige denn eine Staubflocke entdecken. Auch vermisste sie einen gewissen Schrankgeruch. Riecht ein alter Schrank nicht irgendwie eigen, etwas streng oder muffig sogar? Dieser Schrank auf jeden Fall nicht. Marie prüfte nun den Geruch der ausgeräumten Bekleidungsstücke in den beiden Wäschekörben und steckte ihre Nase tief hinein. Alles roch angenehm und frisch. Sie schnüffelte besonders an den beiden Outdoor-Jacken, die sie ja öfter angehabt hatte und die doch einen gewissen Körpergeruch hätten annehmen müssen. Das wäre doch normal. Aber, nein. Auch sie rochen angenehm und frisch wie der Schrank eben.
Marie griff nach dem roten Sommermantel und zog ihn an. Sie betrachtete sich im Spiegel. Der Mantel stand ihr immer noch gut, war vielleicht ihrem Geschmack nach ein wenig zu lang für die heutige Zeit. Dennoch fühlte sie sich leicht und wohl darin. Aber war es nun Einbildung, duftete er nicht leicht nach Rosenparfüm? Sie wunderte sich sehr, hatte sie doch nie Parfüm, geschweige denn Rosenparfüm benutz, obwohl sie Rosenduft sehr mochte.
Seltsam, irgendwie verwunderten sie all diese Wirkungen und Auswirkungen. Spielten ihre Nase und ihre Fantasie ihr einen Streich? Oder besaß dieser Schrank wahrhaftig eine Besonderheit, ein Geheimnis? Marie zweifelte an diesen Gedanken, schwankte zwischen möglich und nicht möglich, zwischen Wahrheit und Einbildung, zwischen Wissen und Nichtwissen. Eines aber wusste sie genau, dass sie über den Schrank und seine Herkunft kaum etwas wusste.
Sie zog den roten Mantel aus und holte tief Luft. Sie brauchte jetzt eine Pause und dann wollte sie nachdenken.